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Eine atomare
Herzensangelegenheit
Von Isabell Blöchl
Mathias Tesch traut sich erst wieder von der Straße hoch zu schauen, als das
Kernkraftwerk „Bruno Leuschner“ hinter ihm liegt. Am liebsten würde er immer
einen großen Bogen um das Gelände machen. Aber wenn er geschäftlich auf
Termine nach Wolgast oder Usedom muss, hat er keine Wahl.
Achtzehn Jahre lang hat Tesch in dem Kernkraftwerk gearbeitet, von 1974 bis
1992,
zuletzt als Schichtleiter. Er will die Gebäude, in denen er tagaus tagein
seinen Dienst getan hat, nicht sehen. „Ich habe Angst, dass ich mir sonst
die guten Zeiten, die ich dort verbracht habe, zu sehr zurück wünschen
würde.“
Die Menschen im Werk, das waren seine Freunde, seine Familie. „Nach der
Nachtschicht sind wir immer zusammen in einen Club gegangen“, erzählt er.
Sein Brigadetagebuch ist voll von Berichten über Feiern, Versammlungen und
Ausflüge. „Das Kraftwerk war mein Leben.“
Im Schweiße des Angesichts
Tesch erinnert sich an eine Nachtschicht Mitte der achtziger Jahre. Als
er spätabends ankommt, ist bereits zu wenig Wasser im System. Obwohl die
Nachtschicht nur den Betrieb überwachen und im Notfall den Block abschalten
soll, schrauben die Männer die ganze Nacht, tauschen Teile aus. Am nächsten
Morgen werden die Werte abgelesen. Tesch ist verschwitzt und müde, aber
stolz. Alles ist wieder weit im grünen Bereich. „Wir haben aus Scheiße
Bonbons gemacht“, sagt er.
Es sind Bonbons, an denen sich die Greifswalder hätten verschlucken können.
Bereits 1984 macht der KKW-Mitarbeiter Norbert Meyer auf Sicherheitsmängel
aufmerksam, doch seine Berichte verschwinden in den Schubladen.
Im Jahr 1990 bestätigt ein Expertengutachten Meyers Bedenken. Die
Entscheidung fällt, die Reaktoren vom Netz zu nehmen und zurückzubauen.
Dabei ist das Werk noch im Bau. „Das Abschalten ergab keinen Sinn“, sagt
Tesch. Noch heute glaubt er, dass politische Gründe im Vordergrund standen.
Distanz gewinnen
Für Mathias Tesch und viele andere folgen Kurzarbeit und Kündigung.
„Wir wussten, die Tage sind gezählt, und haben versucht, mit dem Thema
abzuschließen.“ Am 31. März 1992 gibt er alle seine Werksausweise zurück.
Die weiteren Entwicklungen verfolgt er in der Zeitung, den Rückbau, die
Castor-Transporte.
Tesch versucht sich auf die Fakten zu konzentrieren, nicht an die vielen
Freunde zu denken, die nicht mehr da sind, oder an seine Arbeit, die andere
jetzt zerstören. „Daran zu denken, schmerzt.“ Nach einer Weiterbildung nimmt
er 2002 wieder einen Job als Ingenieur an. Er wartet nun Heizanlagen, die
mit Getreide, Stroh oder Holz betrieben werden. Der Firmen-Slogan:
„Kornenergie statt Kernenergie“ |