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    DIE ARBEITERBEWEGUNG 
    NICHT VERGESSEN 
     
    
    
     
     
    
      
    Text und Foto:  Magnus Kleditzsch 
     
     
    
    
    Geschichte wird aus Sicht derer 
    archiviert, die Geld für Museen und Stiftungen 
    spenden. Es gibt Wenige, die die Geschichte aus Sicht des
    lobby-losen Proletariats, der Arbeiter, beleuchten. Museen werden von
    Stiftungen bezahlt, Stiftungen wiederum von Parteien, Verbänden oder
    anderen finanziell potenten Gruppen. Keine Chance für eine faire 
    Geschichte? 
     
    Silke Wagner, Jahrgang 1968 und Künstlerin aus Frankfurt am Main, 
    setzt sich im Rahmen der „Skulptur Projekte“ 
    dafür ein, dass dies nicht so bleibt. Die „Geschichte 
    von unten“, wie man im Fachjargon und mit liebevollem 
    Unterton die Erhaltung und Aufzeichnung der Arbeiterbewegung
    nennt, erhält durch ihr Engagement mindestens zwei neue
    Standbeine in Münster. 
     
    Wenn man dieser Tage durch die Innenstadt läuft und in die 
    Nähe des Karstadt-Hauses kommt, so wird man auf die 
    dreieinhalb Meter hohe Statue eines Mannes stoßen. Ein älterer Herr, hager, mit einem weiten Mantel. 
    Ein Mantel wie eine wandelnde Litfasssäule, von oben bis
    unten plakatiert. Eine Skulptur von Silke Wagner, das erste Standbein 
    ihres Projektes. Die riesige Skulptur ragt über alle 
    Passanten hinweg, erregt Aufmerksamkeit durch ihre 
    wechselnde Gestaltung: Alle vier Wochen wird auf dem 
    plakatierten Mantel ein anderes Reizthema aufgegriffen. „Das ist Paul Wulf. Er ist nach dem 
    Zweiten Weltkrieg, als junger Mann, mit seiner 
    Aktentasche voller unangenehmer Wahrheiten durch Münster
    gewandert, und hat Menschen auf den Faschismus angesprochen. Ein
    mutiger Kerl“, weiß Sarah, eine 21-jährige Besucherin der
    „Skulptur Projekte“ aus Wuppertal. Die interessierte junge Frau 
    begutachtet den imposanten Körper und liest die 
    angebrachten Artikel aufmerksam.
    In mühsamer Handarbeit hat Wulf den Inhalt seiner Aktentasche 
    ausgewählt, den Staat mehrere Male verklagt. In der 
    Zeit des Nationalsozialismus war er als „schwachsinnig“ eingestuft und 
    zwangssterilisiert worden.  
     
    Er hat Aufmerksamkeit
    auf die Motive der Atomkraftbefürworter gelenkt und Professoren
    der Universität Münster, die als Nazi-Forscher unsägliche Operationen und Experimente durchgeführt haben, 
    überführt. Jetzt 
    thront er vor dem Stadthaus. Plakatiert mit seiner 
    Botschaft, die gleichzeitig eine Einladung in Münsters
    Umweltzentrum-Archiv (UWZ) ist.  
     
    Das UWZ ist eines der wenigen Museen, die sich
    ausschließlich auf die Geschichte der Arbeiterbewegung konzentrieren.
    In der Tat steht Paul Wulf und somit auch Silke Wagners Skulptur wie 
    keine zweite für Münsters „Geschichte von unten“. 
    Trotz des imposanten ersten Eindrucks kann die 
    Skulptur problemlos auf eine geschickte Einladung in das UWZ 
    reduziert werden. Viele Bürger, durch die langen Artikel und kurzen,
    prägnanten Thesen auf dem Körper angesprochen, besuchen später das
    Museum. Das UWZ fasst eine 
    Alternativbibliothek von insgesamt über 500 Regalmetern,
    fein säuberlich sind die 15.000 Werke nach über 33.000 Stichwörtern
    sortiert. Schwerpunkte liegen unter anderem auf Umwelt, 
    Anti-Atompolitik, Internationalismus und 
    Frauenbewegung. Alles aus der Sicht des einfachen 
    Arbeiters.  
     
    Und auch hier hat Silke Wagner ihre Finger im Spiel. Ein junger Mann, 
    der sich angestrengt durch einen Haufen Bücher 
    arbeitet und sich offensichtlich mit der Ausstellung 
    auskennt, hilft in der Lobby bei der ersten Orientierung. Benjamin Becker, 
    Literatur- und Geschichtswissenschaftler aus Köln: 
    „Silke Wagner leistet einen wichtigen Beitrag zur Popularisierung
    der Missstände sozialer Minoritäten. Soweit ich weiß, setzt sie sich 
    seit Ende der 90er durch ihre Kunst für Minderheiten 
    ein. Mein Lieblingskunstwerk ist ein umgestalteter 
    Lufthansa-Bus mit der Aufschrift ‚Deportation Class‘ 
     
    –
    denn die Lufthansa schiebt für den Staat Ausländer ab. Ein
    starkes Werk.“ Auf die Frage, wie genau Silke 
    Wagners Zusammenarbeit mit dem UWZ aussieht, sagt 
    Becker: „Frau Wagner digitalisiert
    die Materialien des UWZ und stellt sie auf einer selbst gestalteten
    Website online“. 
     
    Schon Anfang 2006 setzte Wagner sich mit der Ausstellung „Demokratie
    üben“ im Kunstverein Münster politisch ein. Ausstellungen in Ungarn,
    Schweden, Österreich und vielen großen deutschen Städten zeigen das 
    Interesse an Wagners wachrüttelnden Versuchen, 
    Geschichte nicht einseitig zu betrachten.
    Natürlich ist es nicht möglich, während des Projektzeitraumes das 
    komplette Archiv der UWZ zu digitalisieren. Aber, so 
    Bernd Drücke vom Umweltzentrum-Archiv: „Die 
    Digitalisierung des Archivs soll über das Projekt 
    hinaus fortgeführt werden, so dass es zu einer stetigen Erweiterung der
    im Netz zur Verfügung gestellten Informationen kommt.“
    Die Krönung von Silke Wagners Engagement bei den „Skulptur 
    Projekten“, eine ausführliche Vorstellung der Arbeit 
    des UWZ im  Metropolis-Kino, fand am 11. Juli statt. Unter dem Motto 
    „Verschiebung der Wahrnehmung“ brachte sie ihre 
    Intention auf den Punkt: Geschichte nicht nur aus der 
    Perspektive der Konzerne und Organisationen, sondern auch
    aus der Sicht des einfachen Arbeiters oder Bürgers zu 
    berücksichtigen, um eine möglichst neutrale 
    Sichtweise zu gewinnen. Und die Strategie geht in 
    Münster auf: Die Kombination aus Skulptur, 
    Ausstellung und Webseite ist ein voller Erfolg, die Besucherzahlen des
    UWZ steigen. 
     
    Weitere Informationen finden Sie auf 
    http://www.uwz-archiv.de 
    sowie http://www.skulptur-projekte.de. Das Projekt läuft bis zum 30. 
    September. Das Umweltzentrum-Archiv finden Sie in der 
    Scharnhorststraße 57, 48151 Münster. Öffnungszeiten: 
    Montag bis Freitag, 12 bis 16 Uhr. 
    
     
    
    
      
     
    
    
    
    Magnus Kleditzsch, Jahrgang 
    1986 und gebürtiger Hammenser, ist seit seinem 
    fünfzehnten Lebensjahr journalistisch tätig. Als Gründer der Videospiel-Webseite 
    "gamecubex.net" sammelte er von Anfang 2001 bis 2005 
    erste Erfahrungen im Bereich Online-Journalismus. 
    Nach seinem Abitur am Märkischen Gymnasium Hamm im Jahre 2005,
    wandte er seine Aufmerksamkeit dem Podcast "Nintendocast" zu. Magnus
    studierte zwei Semester angewandte Kommunikationswissenschaft an der
    Universität Duisburg-Essen, bevor er im Wintersemester 2006 zur 
    Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster wechselte. 
    Außer-dem absolvierte er ein sechsmonatiges Praktikum 
    in der PR- und Marketingabteilung von Nintendo 
    Deutschland und schreibt heute als freier Mitarbeiter Werbetexte für
    den weltweit größten Videospielehersteller. Außerdem bloggt Magnus 
    für die Computec Media AG. 
    Kunst übt vor allem im digitalen Bereich schon seit den frühen 90er Jahren
    einen großen Reiz auf Magnus aus. Die „Skulptur Projekte“ sind für 
    ihn ein wunderbares Beispiel für Kunst im 
    öffentlichen Raum und vor allem ein Aufhänger für 
    viele Laien, sich mit dem Metier zu beschäftigen.  | 
    
      
     
    Silke Wagners Skulptur von Paul 
    Wulf (* 2.5.1921, † 3.7.1999)
     
     
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