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    IM SCHATTEN DER KUNST 
     
    
    
     
     
    
      
    Text und Foto: Carolin Wattenberg 
     
     
    
    
    In diesen Tagen 
    offenbart selbst ein Cafébesuch: Die „Skulptur Projekte Münster“ sind 
    allgegenwärtig. Wenn auch nicht in den Köpfen der Münsteraner. 
     
    
    
    Es ist ein warmer Junitag. Sonnenstrahlen spiegeln sich auf den silbernen 
    Tischen und Stühlen vor dem Gasolin, einem Studentencafé in der Innenstadt 
    von Münster. Während sich nur zwei Gäste ins Innere des Gasolin 
    zurückgezogen haben, sind auf dem kleinen Platz vor dem Café alle Tische 
    belegt. Das Gasolin ist vor allem ein Sammelpunkt junger Menschen, die hier 
    mit Freunden zusammen kommen, etwas trinken und das sonnige Wetter genießen.
     
     
    Neben den Tischen, am äußeren Rand der Terrasse, sind zahlreiche Fahrräder 
    aufgereiht 
    
    –
    dicht gedrängt, ineinander verhakt. Die Räder, beinahe ein 
    Wahrzeichen Münsters, bilden die Begrenzung zum Bürgersteig und zu der 
    dahinter liegenden Straße, auf der an diesem Nachmittag ein wahrer 
    Menschen-strom vorbeizieht. Eine Lehrerin ermahnt die hinter ihr her 
    trottende Schulklasse, doch wenigstens die entgegen-kommenden Menschen 
    vorbeigehen zu lassen, ohne dass diese auf die Straße ausweichen müssen. 
    Einige Kinder folgen ihrer Anweisung und finden sich in ordentlichen 
    Zweierreihen zusammen. Die meisten Passanten lassen ihren Blick nur kurz 
    über das Gasolin und seine Besucher schweifen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit 
    wieder den Kunstprospekten und Stadtplänen zuwenden, die sie umständlich in 
    den Händen hin und her manövrieren.  
     
    Erst vor wenigen Tagen haben die „Skulptur Projekte“ begonnen. Seitdem 
    ist das „Museum Münster“ offiziell für Besucher geöffnet, die 
    
    – 
    
    nach den 
    Nummernschildern der Reisebusse zu urteilen
    
    –
    besonders zahlreich aus 
    Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden anreisen. Die Projekte und 
    Skulpturen der 36 internationalen Künstler verteilen sich über die ganze 
    Stadt. Die meisten ballen sich jedoch im Zentrum und in der Nähe des Aasees. 
    Viele der Besucher der „Skulptur Projekte“, die das Café heute passieren, 
    steuern eines dieser „Ballungszentren“ an. Dabei blicken sie immer wieder 
    konzentriert auf die Informationsmaterialien zu der Ausstellung. Anscheinend 
    sind sie darauf bedacht, die nummerierten Punkte auf ihren Stadtplänen, die 
    für einzelne Skulpturen stehen, zu einer Route zu verbinden. 
     
    Das Gasolin, eine Art studentischer Mikrokosmos, scheint von all der Hektik 
    und dem Kunsteifer unberührt. Trotz der räumlichen Nähe, ist das Café auf eine 
    gewisse Weise fern von lärmenden Schulklassen, von orientierungslosen 
    „Kunst-Touristen“, von dröhnenden Reisebussen, die sich ihren Weg Richtung 
    Innenstadt bahnen. Aber ist es auch fern von den „Skulptur Projekten“? So scheint es 
    zumindest.  
     
    Ein Blick nach oben 
     
    Sandra und Julia kommen oft ins Gasolin. Die beiden Jura-Studentinnen 
    vertreiben sich hier an der Aegidiistraße gerne ihre freie Zeit zwischen 
    Vorlesungen und Seminaren. Von den „Skulptur Projekten“ haben sie natürlich 
    schon gehört. „Man kommt ja auch kaum darum herum, wenn man hier wohnt.“, 
    erklärt Julia. Doch angesichts der Frage, was sich denn auf dem Flachdach 
    ihres Lieblingscafés befände, blickt sie unsicher zu ihrer Freundin herüber. 
    „Da steht was drauf?“ Sie ist ein wenig irritiert, lächelt verlegen, weil 
    sie die scheinbar einfache Frage nicht beantworten kann. Auch ihre Freundin 
    stutzt, bevor sie eine zögerliche Antwort gibt. „Ist das nicht so eine Art 
    Hut?“ Ratsuchende Blicke. Schließlich schauen beide nach oben und betrachten 
    das über fünf Meter hohe Gebilde auf dem Vordach des Gasolin, das sie nur 
    vage beschreiben konnten.  
     
    Eine Dose 
     
    Bei dem blechernen Objekt handelt es sich um eine Skulptur des kanadischen 
    Künstlers 
    Kim Adams. Das „Auto Office Haus“, so der Titel, ist das Relikt 
    einer vergangenen „Skulptur Projekte“-Ausstellung. Es wurde 1997 auf dem Dach der Taxizentrale, die früher in diesem 
    Gebäude war, installiert.  
     
    Ursprünglich war dieses Kunstwerk ein Getreidesilo, der nach oben hin 
    kegelförmig zuläuft und in dessen Blechwand Glasscheiben eingelassen worden 
    sind. Dadurch wirkt das dosenförmige Gebilde als sei es zu einer Behausung 
    umfunktioniert worden. Im Inneren sind deutlich zwei bunte Kinderfahrräder 
    zu erkennen. Sie stehen auf einem Podest, scheinbar für die Ewigkeit 
    konserviert. 
     
    Im Schatten eines Sonnenschirms hat nun eine Gruppe junger Männer auf einer 
    Holzbank  Platz genommen. Die meisten von ihnen kommen 
    regelmäßig hierher, einige schon seit ihrer Schulzeit. Auf die Frage nach 
    dem Objekt auf dem Dach reagieren auch sie mit Verwunderung. Einer der 
    Männer versucht vergeblich, an dem Sonnenschirm vorbei in Richtung Dach zu 
    spähen. „Ach, die Dose?“, fragt Matthias, ein 24-jähriger Medizinstudent 
    jetzt. „Klar, die ist mir schon aufgefallen. Hat die nicht was mit der 
    Tankstelle zu tun?“ Erwartungsvoll schaut er in die Runde. Einige seiner 
    Freunde nicken zustimmend.  
     
    Zwar war das Gasolin früher eine Tankstelle, doch daran erinnert heute nur 
    noch der Name. Als die Freunde erfahren, dass es sich bei der „Dose“ 
    stattdessen um Kunst handelt, sind sie verblüfft. Ab jetzt, so versichern 
    sie, werden sie die Skulptur etwas genauer betrachten.  
     
    Evolution eines Kunstwerks 
    
     
    Ein gezielter Blick auf das „Auto Office Haus“ offenbart nicht nur die 
    vielen Details und Gegenstände, aus denen sich die Skulptur zusammensetzt, 
    sondern auch die Spuren, die die vergangenen zehn Jahre an dem Kunstwerk 
    hinterlassen haben. An der weißen Karussellachse, auf der es montiert ist, 
    hat sich Rost in das Metall eingefressen, die Panoramaglasscheibe ist 
    fleckig, von der Witterung gezeichnet. 
     
    Anscheinend hat ein Kunstwerk wie das „Auto Office Haus“ nicht nur eine 
    physische Halbwertszeit, sondern auch ein Verfallsdatum in den Köpfen der 
    Menschen. Sie erkennen das Kunstwerk nicht als solches, weil sie nicht 
    einmal wissen, dass es existiert.  
     
    Doch es ist sicherlich nicht nur eine Frage der Kunst, sondern auch eine 
    Frage des jeweiligen Betrachters. Dadurch, dass sich die „Skulptur Projekte“ 
    in den öffentlichen Raum integrieren, sich ihm in gewisser Weise anpassen, 
    verlieren sie im Laufe der Zeit auch ihre künstlerische Besonderheit und 
    Aussagekraft. Sie versinken im Alltag und werden nach und nach vergessen.
     
     
    Die meisten Gäste des Gasolin, die heute im Schatten des „Auto Office Haus“ 
    versammelt sind, haben die „Skulptur Projekte“ von 1997 nicht miterlebt. Sie 
    sind vor ein paar Jahren wegen ihres Studiums nach Münster gezogen. Viele 
    von ihnen wissen nicht einmal, wo sich die alten Skulpturen befinden. 
     
    Doch auch die Kultur-Touristen, die Münster extra wegen der „Skulptur 
    Projekte“ besuchen, haben oftmals kein Auge für die Werke der früheren 
    Ausstellungen. Sie gehen an dem alten Getreidesilo vorüber, ohne es eines 
    Blickes zu würdigen, obwohl auch dieses im Prospekt markiert ist. 
     
    Dabei sind gerade diese alten, stehen gebliebenen Kunstwerke es wert, sie 
    genauer zu betrachten, sie zu entdecken. An ihnen entfachten sich Konflikte, 
    sie wurden mit Graffiti besprüht oder abgebaut 
    
    –
    nur um kurze Zeit später 
    wieder aufgebaut zu werden, weil eben doch etwas fehlte. Sie stehen für ein 
    Stück Kontinuität. An ihnen wird deutlich, wie Kunst auch funktionieren 
    kann: Das Gewohnte und Bekannte wird bei genauer Betrachtung wieder zum 
    Fremden und Ungewohnten. Es wird wieder zu Kunst.  
     
    Besonders aus diesem Grund lohnt es sich auch als Münsteraner die Umgebung 
    einmal aufmerksamer zu betrachten, einen Blick nach oben zu wagen, von einer 
    alten Sichtweise abzuweichen. „Was da alles dranhängt.“, stellt auch die 
    Jura-Studentin Julia fest. Mit ihrer Freundin hat sie mittlerweile jedes 
    kleinste Detail der Skulptur genau analysiert und stößt auf immer neue 
    Gegenstände.  
     
    Da ertönt ein lautes Scheppern. Eine ältere Dame, 
    mit einem ausgebreiteten Stadtplan in den Händen, hat versehentlich eines 
    der neben dem Bürgersteig stehenden Fahrräder umgestoßen und damit eine 
    wahre Kettenreaktion ausgelöst. Sie erregt jedoch nur kurz die 
    Aufmerksamkeit der jungen Menschen im Café. Einige lächeln und beobachten 
    sie beim Aufrichten der Räder, bevor sie sich erneut ihren Gesprächen 
    zuwenden 
    
    –
    im Schatten des „Auto Office Haus“, das über dem ganzen Geschehen 
    unbemerkt thront.  
     
     
    
    
      
     
    
    
    
    Carolin Wattenberg, geboren 1986, studiert seit 
    Oktober 2005 im Magisterstudiengang 
    Kommunikationswissenschaft, Politik-wissenschaft und Anglistik an der WWU 
    Münster. Gemeinsam mit drei befreundeten Studenten hat sie 2006 das 
    Online-Magazin „Mediopotamien“ 
    gegründet. 
    
    Im Rahmen der „Skulptur 
    Projekte“ erkannte sie: Kunst muss nicht immer auf den ersten Blick 
    erkennbar sein.  | 
    
      
     
    Kaum beachtet, selten verstanden: 
    die Kunst auf dem Dach |